Das vergessene Mündel
Gamswild steht unter dem besonderen Schutz der Europäischen Union.
Dieser Umstand und die Verpflichtungen, die sich daraus ableiten, werden nur selten beachtet.
Ein Artikel von Dr. Christine Miller, Univ. Prof. i.R. Dr. Friedrich Reimoser; (Fotos: Ch. Böck, W. Peyfuß)
Quelle: OÖ Jäger Nr. 149 (Dezember 2015)
Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher als gleich. Vor allem beim heimischen Wild gibt es eine Reihe von Arten, auf die besonderes Augenmerk fällt. Natürlich stehen seltene und offensichtlich bedrohte Arten unter dem entsprechenden Schutz der Gesetze. Aber „selten“ ist nicht automatisch bedroht und „häufig“ bedeutet nicht, dass eine Art unbekümmert genutzt werden darf. Dieser Überlegung tragen in ihrem Kern auch unsere Jagdgesetze Rechnung. Aber in der Praxis tut es trotzdem gut, wenn auch internationale Aufmerksamkeit auf die eine oder andere Wildart fällt. Die ist im Fall der Gams mittlerweile dringend notwendig geworden.
Natura 2000 – Reizwort und Rettungsschirm
Vor genau 20 Jahren traten nach dem Beitritt Österreichs zur EU auch hierzulande die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, kurz FFH-RL, und die Vogel(schutz) Richtlinie in Kraft. Das Ziel dieser EU-weiten Naturschutz-„Gesetze“ ist es ein Netzwerk von Lebensräumen in Europa zu schaffen, das der Vielfalt der Natur und ihrer Arten in Europa eine langfristige Überlebenschance bietet. Im Zentrum steht das Prinzip, dass die Fülle an Lebensräumen in Europa auch durch den Menschen geschaffen wurde, in den Alpen seit mindestens der Bronzezeit vor 4-5000 Jahren. Folgerichtig besteht das Natura 2000 Netzwerk nicht aus mosaikartig verteilten Käseglocken-Schutzgebieten. „Schützen durch nachhaltige Nutzung“ lautet die Devise.
Die Währung, in der diese Idee umgemünzt wird, sind Lebensräume und Arten. In einer langen Liste führt der Anhang I der Habitat-Richtlinie bestimmte Lebensräume auf, die „von gemeinschaftlichem Interesse sind“. Daneben listet der Anhang II einzelne Tier- und Pflanzenarten, die in Europa erhalten bleiben sollen. Wo dieses Arten vorkommen, müssen die Ländern für deren Schutz sorgen, zum Beispiel durch die Ausweisung spezieller Schutzgebieten. Das sind die „de-Luxe-„ Arten, zu denen viele Fledermausarten, der Fischotter oder die Flussperlmuschel gehören. Wer „nur“ selten oder besonders schützenswert ist, steht im Anhang IV. Auch hier muss sich der jeweilige Staat um den Erhalt dieser Pflanzen und Tiere sorgen; das Vorkommen von Feldhamster, Wildkatze oder Ziesel erfordert aber nicht automatisch die Errichtung von eigenen Schutzgebieten.
Heute gibt es in Österreich etwa 218 Natura 2000-Gebiete, die als Folge von Vorkommen bestimmter Lebensräume oder Arten aus den Anhängen der Richtlinie gemeldet wurden. Zusammengenommen machen sie knapp 15% der Landesfläche aus. Österreich steht nun der EU gegenüber in der Pflicht, für dieses Gebiete und Arten sogenannte Managementpläne zu erstellen. Ohne solche Pläne und Verordnungen der einzelnen Landesregierungen sind Maßnahmen in den Natura 2000 Gebiete nur für den Staatswald verpflichtend. Das Ziel ist klar definiert: der „günstige Erhaltungszustand“ muss in Österreich gewahrt werden; In der Amtssprache: Es besteht Verschlechterungsverbot. Da Naturschutzrecht Ländersache ist, tut sich die Bundesrepublik schwer diese Forderungen umzusetzen. Weil es bei der vollständigen Meldung von Lebensräumen und Arten etwas haperte, kamen inzwischen schon mehrere blaue Briefe der EU-Kommission nach Wien. Ein Vertragsverletzungsverfahren durch die EU, bis zum Ende durchgeführt, kann die Republik eine empfindliche Stange Geld kosten.
Das fünfte Rad
Nach den Anhängen 1 bis 4 gibt es noch einen fünften Anhang, der in der allgemeinen Wahrnehmung vieler Länder und Staaten manchmal etwas untergegangen ist oder missverstanden wird. Die Arten, die hier aufgelistet sind, dürfen durchaus wirtschaftlich genutzt werden, wie Arnika oder Schneeglöckchen, Edelkrebs oder Blutegel, Weinbergschnecke oder Huchen. Die Mitgliedsländer können dazu eigene Regelungen treffen, müssen aber dafür sorgen, dass die Arten nur im Rahmen von eigenen Managementplänen gesammelt oder gefangen werden.
Der Artikel 14 (1) der FFH-RL verpflichtet die Mitgliedsstaaten auf ein Monitoring der Arten nach Anhang V und dieses Ergebnis – nach Artikel 17 (1) alle sechs Jahre an die EU-Kommission zu berichten. Wieder gilt auch für die Arten des Anhang V, dass sich ihr Zustand nicht verschlechtern darf und sie auch bei Nutzung einen günstigen Erhaltungszustand aufweisen. Für die in Österreich jagdbaren Anhang V Wildarten – neben Schneehase, Edelmarder, Iltis und Steinwild auch die Gams – eigentlich keine große Sache. Die Jagdgesetze der einzelnen Bundesländer verpflichten die Jagdinhaber zu einer nachhaltigen Behandlung der Wildbestände. Und vor allem die Abschussplanung für Schalenwild folgt dem Prinzip einer regelmäßigen Überwachung der Bestände, wie sie auch im Artikel 11 der FFH-RL gefordert wird. Doch haben sich die Zeiten vor allem für das Gamswild in den vergangenen Jahren gewandelt. Aus dem traditionsreichen Bergwild ist in einigen Alpenregionen im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte der Protoyp eines Waldschädlings geworden.
Gams im Wald
Sie sind so etwas wie das Schweizer Taschenmesser unter den Wildarten am Berg. Gamswild nutzt dauerhaft oder zeitweise eine Reihe von Lebensräumen, vom hochalpinen Matten bis hin zu steilen Flusstälern oder Felspartien im Tiefland. Auch rein bewaldete Gebiete bieten beste und natürliche Gamseinstände, wie Studien aus dem Schweizer Jura und anderen Regionen beweisen. Der Übervater der Gamsforschung, Prof. Sandro Lovari von der Universität Siena, fasst es zusammen: „Gamswild ist eine Wildart steiler Lagen, aber keine ausgesprochene Bergwildart.“
Die Nutzung von Waldeinständen ist keineswegs ein unnatürliches Verhalten, das nur durch die Abwesenheit von Wolf und Luchs entstehen konnte. Auch in Regionen mit großen Beutegreifern stehen Gams, dort, wo sie hingehören: in steilen, felsreichen Lebensräumen, bewaldet oder nicht. Selbst wenn ungestörte Almflächen zur Verfügung stehen, zeigen unsere Alpengams ein Ballet am Berg, wo jede Sozialklasse zu jeder Jahreszeit einen optimalen Einstand aufsucht. Im Frühjahr zieht das Scharwild in tiefe Lagen, dem ersten frischen Grün entgegen. Im Laufe des Sommers wandern Geißen, Kitze und die „Jugend“ immer weiter nach oben, während die reifen Böcke auch in den Sommermonate etwas tiefer stehen, kleine Junggesellengruppen drücken sich in den weniger ergiebigen Waldgebieten herum.
Nach der Brunft ziehen sich die alten Kämpfer zur Regeneration in ruhige, deckungsreiche Einstände zurück. Den Hochwinter übersteht die Gamspopulation am besten auf steilen, sonnigen Einständen, oft lichte Wälder, wo immer etwas Gras aus dem Boden spitzt.
Neben dieser natürlichen Nutzung der Bergwälder ziehen sie sich auch dorthin zurück, wenn auf den Freiflächen zu viel Trubel herrscht. Hoher Jagddruck oberhalb der Waldgrenze und auf lichten Flächen drücken zusätzlich Wild in deckungsreiche Einstände. Und nicht zuletzt hat der Bau vieler Kilometer Forstwege grüne Leitlinien geschaffen, der Gams zusätzlich nach unten zog.
Alarmsignal
Dort sind sie nicht immer wohl gelitten. Denn als Pflanzenfresser werden sie für das Nicht-Erreichen forstlicher Ziele, zum Beispiel bei der Verjüngung von Tannen, haftbar gemacht. Und auf Flächen, die als sogenannter „Schutzwald“ ausgewiesen sind, sollten sie sich auf gar keinen Fall aufhalten. Dabei geben Kritiker des zunehmenden Drucks auf Gams zu bedenken, dass der Einfluss dieser Wildart auf die Verjüngung keineswegs so eindeutig und linear ist, wie oft dargestellt wird. Während andererseits die Funktion von Schutzwaldbeständen immer wieder kritisch geprüft werden sollte.
Aus vielen Waldgebieten soll das Gamswild ferngehalten werden. Das wird versucht, indem einerseits die Gamsdichten allgemein gesenkt werden und andererseits man auf den ausgewiesenen „Schutzwaldflächen“, „Sanierungsgebieten“ oder „Quellschutzgebieten“ Gamswild auch außerhalb der Schonzeiten durch ständigen jagdlichen Druck vergrämen will. Im Zuge solcher Vorgehen wird oft stark in die mittelalten Gams eingegriffen, was nachhaltig den Zuwachs der Population beeinträchtigt. Weil Böcke sowieso schon tiefer als Geißen stehen, birgt der konsequente Abschuss von „Waldgams“ auch die Gefahr in sich das Geschlechterverhältnis des Bestandes immer weiter Richtung Geißen zu verschieben. Auf die Dauer führt dieses Vorgehen zu einer drastischen Destabilisierung der Sozialstruktur der Gamspopulationen. Sie werden anfälliger für Parasiten und Krankheiten, die Brunft verläuft länger und anstrengender wegen der unklaren gesellschaftlichen Verhältnisse im Bestand: Ohne die alten Erfahrungsträger wird auch der Winter immer risikoreicher für den Restbestand – zumal, wenn die natürlichen Wintereinstände nicht betreten werden dürfen. Lokale Schwerpunktbejagung ohne gleichzeitig artgerechte Rückzugs- und Ruhegebiete zu schaffen widersprechen dem Verschlechterungsverbot der FFH-RL.
Sorgfaltspflicht
Auch in nichtbejagten Populationen gehen seit Ende der 1990er Jahre die Gamsbestände zurück; Klimawandel, Krankheiten, verschobene Konkurrenzverhältnisse, Störungen im Lebensraum fordern ihren Preis. In dieser Situation muss dort, wo Gams bejagt werden, umso aufmerksamer darauf geachtet werden, dass die Populationen, wie in der FFH-RL gefordert, einen günstigen Erhaltungszustand aufweisen, artgemäße Lebensräume erhalten werden und der Abschuss großräumig auf den nutzbaren Zuwachs beschränkt ist.
Die EU verlangt von ihren Mitgliedsstaaten „Vorkehrungen zu treffen, durch die sich eine Überwachung des Erhaltungszustandes der in dieser Richtlinie genannten natürlichen Lebensräume und Arten sicherstellen lässt.“ Für Österreich bedeutet das, dass jedes Bundesland in seinem Zuständigkeitsbereich ein gutes „Monitoringsystem“ aufbaut. Unter dem Fremdwort verbirgt sich mehr als nur das Zählen des Bestandes im Revier. Neben guten, systematisch erhobenen Populationsschätzungen gehören auch Angaben über Zuwachsraten, aktuellem Verbreitungsgebiet, zur Verfügung stehendem Lebensraum, Veränderungen im Sozialaufbau einer Population. Und nicht zuletzt eine fachlich saubere Auswertung der Jagdstrecken. Nur mit diesem Handwerkszeug – das etwa auch dem Vorgehen bei der Wildökologischen Raumplanung entspricht – kann eine seriöse Einschätzung des Erhaltungszustands der Art erfolgen und gemeldet werden.
Nachdem sich diese Einschätzung auch immer auf den Stand der Populationen und ihrer Verbreitung um 1992, dem Jahr des In Kraft Tretens der Richtlinie, bezieht, wird die Luft langsam dünn. Die zuständigen Bundesländer sollten sich daher bemühen rasch ihre Hausaufgaben auch in Sachen Gamswild zu erledigen. Revierangepasste Zählverfahren, großräumige Abschussplanungen unter Einbeziehen aller notwendigen Populationskennzahlen und eine gründliche Streckenanalyse sind die Grundpfeiler der Sorgfaltspflicht zu der auch Österreich verpflichtet ist.